CAKE | 17 — Vertigo
Sie höre ein Summen. In ihrer Wohnung und auch im Treppenhaus. Ob ich das auch hören würde. Die Schauspielerin steht in meinem Türrahmen und schaut mich verunsichert an. Sie versucht herausfinden, woher das Geräusch stammt, das sie seit Tagen nicht zur Ruhe kommen lässt. Ich höre nichts. Es tut mir leid. Sie schüttelt den Kopf, dreht sich um und geht die Treppe hoch. Ich höre nur, wie sie die Tür ihrer Wohnung resigniert ins Schloss fallen lässt.
Können Sie den Krach irgendwie beschreiben, Sir? Manchmal fallen mir als Reaktion auf die Aussagen Anderer plötzlich Sätze aus Filmen ein, die ich in meiner Jugend zu oft gesehen habe. Wenn ich sie laut ausspreche, kann ich nicht anders als schmunzeln. Mein Gegenüber weiß sie als Erwiderung meist nicht zu schätzen. R hat einige dieser Sätze schon gehört und rollt immer die Augen, wenn sie wieder fallen. Frankly, my dear, I don't give a damn.
Ich kann nicht mehr lesen. Jedes Mal wenn ich ein Buch in die Hand nehme und aufschlage, verliere ich mich in Gedanken. Treibe einfach davon. Ich tauche plötzlich ab in die abstrusesten Erinnerungen und Ideen, als würde ich von einer Welle herum geschleudert werden. Oben und unten sind nicht mehr unterscheidbar. Wenn mein Kopf eine Weile später wieder klar ist, hole ich tief Luft und klappe das Buch erschöpft zu, ohne einen Satz gelesen zu haben.
Es fiel mir schon immer schwer auf andere zu hören. Das musst du sehen. Das musst du probieren. Du musst gehen. Oft ziehe ich am Ende die gleiche Schlussfolgerung, nur bin ich eben auf anderem Wege hingelangt. Und habe dabei Parameter bedacht, über die Andere nicht verfügen. Die Implikationen von Entscheidungen sind immer individuell. Und die kann uns auch niemand abnehmen. Manchmal schmecken sie nur nicht allen.
Mal nicht sich selbst denken hören. Einer der vielen Gründe, warum ich angefangen habe mich auf Hörbücher zu verlassen. Seit Stunden flüstert mir nun eine fremde, angenehme Stimme eine Geschichte ins Ohr, die nicht die meine ist. Und es ist, als würde nur ich sie vorgelesen bekommen. Nichts in meinem Bücherregal deutet darauf hin, dass ich sie kenne. Trotzdem gehört sie jetzt mir.
Zu oft hatte ich das Wasser in dem elektronischen Wasserkocher vergessen. Erst als es bereits kalt war, fiel mir ein, dass ich einen Tee trinken wollte. Jetzt pfeift mich ein Kessel an, als wäre er empört, dass ich ihn in der Küche allein gelassen habe. Und ich laufe schnell hin, als wollte ich das Schlimmste verhindern. Wenn ich ihn von der rot glühenden Herdplatte nehme, habe ich das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen. Das schrille Geräusch dröhnt noch Minuten später in meinem Kopf, wenn ich mir mit dem Tee die Zunge verbrenne. S ist sehr lösungsorientiert und dabei risikofreudig.
Heute habe ich geweint, wie ich noch nie geweint habe. Derartige Geräusche hatte ich weder jemals gehört noch selbst von mir gegeben. Schmerz ist guttural. Er formt sich im tiefsten Inneren und bahnt sich den Weg frei durch aufgerissene Lippen – und hinterlässt rot unterlaufene Augen. Seine Dissonanz zwingt uns zu Boden. Später, als ich wieder ruhig atmen kann, stehe ich regungslos vor dem Fenster und beobachte die Nachbarin von gegenüber wie sie ihre Blumen auf dem Balkon gießt. Sie trägt ein grünes T-Shirt, auf dem in großen weißen Buchstaben GOOD LUCK steht. Ich muss lachen. Das Universum hat Humor. Immerhin das.
Ich bin im Bett als mein Telefon gegen 23 Uhr klingelt. Die Schauspielerin hört wieder das Geräusch, versucht es verzweifelt zu beschreiben. Sie vermutet den Nachbarn nebenan dahinter. Komm hoch, fleht sie. Im Pyjama betrete ich ihre Wohnung und höre nur ihren alten Röhrenfernseher rauschen. Es läuft ein Schwarzweißfilm, die Ecke oben rechts flimmert grün. Sie macht den Fernseher aus und es wird still. Ich höre nichts. Gehe vom Wohnzimmer zurück in den Flur, in ihr Schlafzimmer, in die Küche und zurück ins Wohnzimmer. Diesmal schüttle ich den Kopf. Sie ist den Tränen nah, verspricht mir aber auf meine Bitte hin, morgen einen Termin beim HNO zu vereinbaren. Wir alle hören mal Dinge, die wir nicht hören wollen. Aber manchmal müssen wir uns einfach nur vergewissern, dass wir nicht allein sind.
Ich bin fasziniert von seltenen Krankheiten – solange ich sie nicht in meinem Körper vermute. Es gibt eine, die erwachsene Männer zu Boden wirft. Sie liegen dann da, wie umgefallene Bäume. Und um sie herum dreht sich, was wir nicht sehen. Menière bewirkt Vertigo und Hörverlust. Oder Tinnitus. Die Ursache für diese Erkrankung des Innenohrs ist nicht bekannt. Es gibt nur Vermutungen. Aber oft ist das das einzige, an dem wir uns festhalten können.
Vor einigen Tagen habe ich neben unserer Wohnungstür ein halb volles Glas Wasser gefunden. Es stand einfach da. Vielleicht war es auch halb leer. Ich weiß nicht, wem es gehörte oder wer mir damit etwas sagen wollte. Ich habe das Wasser vor dem Haus auf den Gehweg geschüttet und das Glas klirrend in den Mülleimer geworfen. Subtile Kommunikation war noch nie mein M.O.
Wale verständigen sich über hochfrequente Pfeif- und Klicktöne. Offenbar nutzen sie diese nicht nur zur Ortung, sondern auch um sich einander zu vergewissern. Sie bleiben über Jahrzehnte zusammen und brauchen die Gemeinschaft. Durch die hohe Anzahl an kommerziellen und militärischen Schiffen müssen sie mitunter ihre Frequenz erhöhen, um sich noch gegenseitig zu hören. Während wir ambient noise zum Schlafen brauchen, gehen Wale daran zugrunde. Der Gesang eines Buckelwals klingt tieftraurig, aber ich anthropomorphisiere sicherlich nur. Und mein Mitleid wird sie nicht retten.
In Beirut gab es gestern eine massive Explosion. Sie hat alles in einem Radius von einigen Kilometern nivelliert. Die Vibration erschütterte hunderttausende von Leben und beendete sicherlich das vieler Menschen. Ich kann nicht aufhören, mir die Videos der Explosion aus unterschiedlichen Perspektiven anzuschauen. Eine immense Zerstörung, womöglich ausgelöst durch Ammoniumnitrat gespickt mit Ignoranz. Die Resillienz, die es braucht, um dieses Trauma zu überwinden, muss enorm sein.
R wirft mir vor, ich hätte eine selektive Wahrnehmung. Ich mag meine Wahrnehmung. Sie macht vieles erträglicher. Ich kann Töne ausblenden. Und sogar für eine Weile von mir fern halten. Zum Beispiel wenn R mit mir spricht. Das passiert allerdings nur, wenn ich mich gerade konzentriert auf etwas fokussiere und gestört fühle. Wenn ich mich über einem Blatt Papier beuge und zeichne. Oder einen Gedanken aufschreiben will. Erst später, lange nachdem R das Zimmer verlassen hat, erreicht seine Frage mein Hirn. "Ich weiß es doch auch nicht," rufe ich ihm hinterher.