CAKE | 06 — Raumentwicklung
Wenn du klein bist und plötzlich kein Wort verstehst von dem, was um dich herum gesprochen wird, wirst du leise. Und fängst an, ganz genau hinzuhören. Zu beobachten. Versuchst aus dem Nichtgesagten Bedeutung zu extrahieren. Einen Hinweis darauf zu finden, was von dir erwartet wird. Deine eigene Sprache ist nutzlos geworden. Das Fremde hat dir alle Wörter entzogen. Nun musst du improvisieren.
Wenn du so groß geworden bist, kannst du die kleinsten Bewegungen in den Mundwinkeln oder den Augen registrieren, bevor sie deinem Gegenüber selbst bewußt werden. Du erkennst Nuancen im Ton, die dir verraten, was der andere meint und wie du dich verhalten solltest. Andere Menschen zu lesen, liegt später in deiner Natur. Und du kommst nicht mehr davon los, ständig zu interpretieren und die Umgebung zu sondieren. Habe ich etwas mißverstanden? Reagiere ich richtig?
Immigration bewirkt die Minimierung deines Selbstverständnisses. Nichts ist mehr gegeben. Alles wird hinterfragt. Und dein Selbstbewusstsein befindet sich im Sinkflug. Alles, was dich bis dahin ausgemacht hat, muss neu verhandelt werden. Worüber du lachst, was du gerne isst, wie du aussiehst, was du denkst. Wie du heißt. Ein e für ein a. Alles scheint variabel. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum du so gern umziehst: die Aussicht auf Veränderung ist dir in Fleisch und Blut übergegangen. Du könntest morgen die Stadt wechseln. Oder das Land. Wäre auch ok. Nicht nur das: Es wäre aufregend. Die Welt würde wieder heller, tiefer, intensiver scheinen. Und ungewisser. Denn so überwältigend sich das anfühlt, letzten Endes macht es dich verletzbar. Die Neuverortung verschiebt dein Selbstverständnis. Unsicherheit ist ab sofort deine Werkseinstellung. Du beneidest Menschen, die Raum einnehmen. Die Unbesonnenen. Die mit einer Überzeugung auftreten, als gehörte ihnen diese Welt. Als wäre all das nur für sie hier platziert worden. Und das womöglich auch noch trotz ihrer offensichtlichen Defizite – von der Gesellschaft auferlegt, ja, und bestenfalls unbegründet, aber dennoch Defizite, die du mit all deiner Kraft vermeidest oder kaschierst. Du bist von diesen Menschen fasziniert. Beobachtest sie wie eine seltene Spezies in der Hoffnung, von ihr zu lernen.
Du hast genauso viel Recht, auf der Straße zu sein wie all die anderen hier. Ein Satz, der sich eingeprägt hat. Gesagt von deinem Fahrlehrer während einer Fahrstunde. Du warst 18 und trautest dich nicht, zu überholen. Die anderen hinter dir zu lassen. Raum einzunehmen. Er hat aufs Gaspedal gedrückt und damit unwissentlich mehr für dein Selbstbewusstsein getan, als jede deiner Lehrer*innen oder gar deine Eltern. Er nannte dich Chefin, kritisierte dich nicht für deine Fehler und feierte deine Fortschritte. Eine Banalität für andere. Nicht für dich. Nicht wenn Lob so schwer zu bekommen war. Seitdem liebst du das Autofahren. Egal wo es hingeht. Am Steuer hast du alles im Blick. Du kannst die Verschiebung von Grenzen beobachten, sie selbst bestimmen. Seit dem Tag, an dem du deinen Führerschein bekommen hast, fährst mit einem Selbstvertrauen, als hättest du nie etwas anderes gemacht. Es ist so lange her. Du erinnerst dich noch nicht einmal an seinen Namen. Oder wie er aussah. Aber an das Gefühl, das er dir gegeben hat. Als könnten wir überall hin. Als würde all das hier auch uns gehören.