CAKE | 09 — Tu dein Bestes
Die meisten Bilder sind verschwommen und verzerrt oder vergessen, es ist aber auch schon lange her. Nur wenige Momente sind noch klar und immer wieder präsent – sie kommen hoch, wenn ich mir die Zähne putze oder in der U-Bahn aus dem Fenster und in mein Gesicht starre. Sie tauchen so plötzlich und eindringlich auf, dass ich nie weiß, was die Erinnerungen auslöst. Sie sind einfach da. Und ich sitze wieder an meinem Platz in der vierten Klasse, über meinem Heft gebeugt und versuche aufzuschreiben, was Frau Meier uns diktiert. Und verstehe kein einziges Wort, so sehr ihre übertriebene Mimik die einzelnen Sätze in ihrer Bedeutung zu unterstützen versucht. Mein erstes Diktat hatte so viele Fehler, dass meine Lehrerin mir dafür keine Note gegeben hat. Mein Deutsch war einfach zu schlecht. Oder ich stehe mit meiner Mutter vor der Obst- und Gemüseauslage im Supermarkt und rolle erstaunt eine Kiwi in meiner Hand hin und her. Wir hatten so etwas noch nie gesehen und dachten, es wäre eine Kartoffelart. Und waren mehr als überrascht, als wir sie zu Hause schälten und das grüne Fruchtfleisch sahen. Das seltsame ist: Ich war in solchen Situationen weder beschämt noch verzweifelt. Ich habe nicht viel darüber nachgedacht, schätze ich. Fehler und fehlendes Wissen schreckten mich nicht ab. Ich habe einfach getan, was nötig war, um klar zu kommen; beobachtet, geraten und probiert. Und das Gelächter der Anderen drang glücklicherweise nie wirklich zu mir durch. Als gute polnische Katholikin war ich wohl mit genügend Naivität gesegnet.
Jahre später, als erfolgreich integrierte Migrantin, studiert, etabliert und Deutsch genug, um nicht mehr von meinem Gegenüber ernsthaft dazu beglückwünscht zu werden, dass ich akzentfrei spreche, suche ich geradezu nach Situationen, in denen ich mich völlig fremd fühle. Die mich dermaßen überfordern, dass ich nicht anders kann, als wissentlich Fehler zu machen, weil ich es gerade nicht besser weiß. Es fühlt sich ein Stück weit wie nach Hause kommen an. Das Gefühl, mit dem alles begann. Und deshalb fand ich mich wohl an einem bewölkten Abend im Juni allein in Japan, in einem kleinem Sushi Restaurant in Tokio wieder. Ich ging durch die Tür, nickte der Frau an der Kassentheke und ihrem freundlichen いらしゃいませ (Willkommen) zu und setzte mich leise zu den anderen Gästen an die Bar. Der Laden war um die Ecke von der Toritsu Daigaku Station, in einer kleinen Seitenstraße, parallel zu den Gleisen. Jenseits der touristischen Ankerpunkte der Stadt. Kein Michelin Stern, keine englische Karte, dafür frischer Fisch und faire Preise – und diese wohl dank der Nähe zur Tokyo Metropolitan University. Der Eingang war so unscheinbar, dass ich auf der Suche danach gleich zwei mal daran vorbei gelaufen bin. Kein Schild, keine Werbung vor der Tür. Ich weiß bis heute nicht, wie das Restaurant heißt. Ich saß also in einem winzigen Raum an einer ovalen, hölzernen Theke und schaute den beiden Sushi Chefs dahinter bei der Zubereitung der Gerichte zu, die die ausschließlich japanischen Gäste bestellten, indem sie dem Chef ihre Wahl zuriefen. Was nicht nur des richtigen Zeitpunkts bedarf, nämlich wenn der Chef aufblickt und sich in deine Richtung dreht, sondern des Selbstbewusstseins, einfach deine Wünsche in den Raum zu rufen. Für jemanden, der grundsätzlich eher flüstert als spricht, weil sie ungern auffällt, nicht gerade einfach. Außer der Hocker an der Bar, von denen nur zwei leer waren, gab es keine anderen Sitze. An den Wänden hingen die Angebote des Tages, auf Zetteln unterschiedlicher Größe, mit dickem schwarzem Stift geschrieben. Ich starrte sie an und konnte nach einer Weile vereinzelte Silben entziffern, die aber kein Ganzes ergaben, das ich womöglich hätte essen wollen. Also fing ich an, die Karte vor mir zu studieren. Ich ging systematisch vor, fing mit den Überschriften an und arbeitete mich langsam durch die Bereiche durch. Als es schwierig wurde, holte ich Google Translate zur Hilfe und skizzierte die Zeichen mit meinem Zeigefinger in der App nach, in der Hoffnung, dass die eine fehlende Silbe das Gericht offenbart, das sich hinter der Zeichenreihe verbarg. Oftmals ein Kanji. Und oftmals umsonst. Es hat sicherlich fünfzehn Minuten gedauert, bis ich mich entschieden habe, aber wie mindestens eine Stunde angefühlt. Und als hätte sie an meiner Mimik erkannt, dass ich so weit war, kam die einzige Kellnerin in diesem Moment zu meinem Platz und fragte, ob sie meine Bestellung aufnehmen dürfe. Mein Gesicht muss während der Entscheidung von zweifelnd überfordert und schmerzvoll konzentriert auf ach was soll's umgestellt haben. Ich sagte langsam meinen Satz auf, lächelte, bedankte mich und war gespannt auf das Ergebnis dieses Glücksspiels. Erleichtert als hätte ich den ersten Teil einer Prüfung überstanden, nahm ich einen der henkellosen Becher, die vor mir auf der Theke kopfüber aufgereiht waren, legte einen Teebeutel hinein, den ich aus einer der Holzschachteln heraus gefischt hatte und goß den Tee an dem kleinen Hahn vor mir mit heißem Wasser auf. Und während ich wartete und an meinem Grüntee nippte, beobachtete ich die anderen Gäste. Jede einzelne schien entspannt, nach einem langen Tag froh über ein kaltes Glas Bier oder einen Moment Ruhe mit seinen Kindern oder der Freundin. Einige redeten animiert, andere schwiegen und schoben sich nach und nach mit den Fingern Sushistücke in den Mund. Und inmitten dieser Menschen ich, wie aus der Welt gefallen, stolz auf mich selbst und völlig verunsichert zugleich. Ein Zustand, in dem ich seit Jahren lebe und der mich scheinbar nie verlassen wird.
Ich habe übrigens genau das bekommen, was ich bestellt hatte. Keine kleine Sache, in einem Land, in dem ich fast nichts verstehe und in dem mir vieles unbekannt vorkommt. Und in dem es für jede noch so alltägliche Handlung eine Etikette zu geben scheint, die es Punkt für Punkt zu befolgen gilt. Befeuert von meinem kleinen Erfolg habe ich danach auch eine Bestellung in den Raum gerufen. Und alles sicherlich falsch ausgesprochen und akzentuiert. Es war das beste Sushi, das ich jemals gegessen habe. Und das lag nicht am Fisch. Das möchte ich unbedingt betonen.
Und an die Menschen, die sich jemals über meine Aussprache lustig gemacht oder mir später zu meinem akzentfreien Deutsch gratuliert hatten: Akzent ist ein Zeichen von Mut. Dafür sollte sich niemand schämen. Wer etwas falsch betont, hat garantiert mehr zu erzählen, als ihr es jemals begreifen werdet. In diesem Sinne: 頑張ってください. Ganbatte kudasai. Gib dein Bestes.