CAKE | 15 — Intervention
Ich staune, wie ruhig die letzten Wochen waren. Nein, wie ruhig ich war. Dieser Monat – und ich zögere es zu sagen, ich zögere, weil die aktuelle Situation für viele nichts positives hat – war eine notwendige Intervention, von der ich nicht wusste, dass ich sie brauchte. Ich bin zum Innehalten gezwungen worden. Und die Stille kam gerade recht. Mal nicht reden. Und sich mal selbst denken hören. Ich hätte nur nicht gedacht, dass diese Unterbrechung mit so vielen Tränen verbunden sein würde. Aber wann alles in sich zusammen fällt, lässt sich nie genau prognostizieren oder später gar rekonstruieren. Die ersten Risse nimmt man meist gar nicht wahr. Erst wenn das Haus eingestürzt ist, ist man sich sicher.
Und so sitze ich an einem Wochentag frühmorgens auf dem Balkon, umgeben von Vogelgesang und noch schlafenden Nachbarn und trinke Kaffee. Und schaue Pflanzen beim Wachsen zu. Gleich zu Beginn der sozialen Isolierung habe ich angefangen, Gemüse anzupflanzen. Nicht im großen Stil. Noch habe ich keinen eigenen Garten. Aber die Jalapeños machen sich auch in einem Tontopf auf meiner Fensterbank in der Küche ganz gut. Die Radieschen und Kräuter auch. Sie haben sogar Namen. Vormittags kommen Iris Radisch, Juan, Carlos, Jorge, Mercedes und die anderen in die Sonne auf den Balkon. Zu den langsam blühenden Hortensien und dem Yuzu Baum, der hoffentlich eines Tages Früchte tragen wird, während die Welt um mich herum von einem Wirbelsturm aus Todeszahlen, unerwarteten Diagnosen und schmerzvollen Geständnissen traumatisiert wird. Alles um mich herum dreht sich. Und ich scheine gerade im Auge des Sturms zu sitzen. Die Luft ist still. Mein Atem ruhig. Ich weiß genau, was der Sturm anrichten könnte, aber ich kann, ich kann mir den Schaden einfach nicht vorstellen und warte ab. Wieso bin ich so gefasst? Müsste ich nicht um mich schlagen? Vielleicht sind Sie einfach stärker als Sie denken. Vielleicht.
Alle meine Pläne sind dahin. Und mit ihnen auch einige schöne Erinnerungen. Plötzlich sind die letzten Jahre mit einem grauen Schleier belegt. Der Schmerz in der Brust sitzt tief. Ist das noch Enttäuschung oder schon das Virus? Ich würde so gern verschwinden. Noch heute einen Flug buchen, die Tasche packen und einfach mal nach Osaka oder Seoul oder Vancouver fliegen. Social distancing for professionals. Aber inmitten von Fremden. Ich tröste mich stattdessen mit vagen Ideen für das nächste Jahr. Auch wenn die Koordinaten noch nicht feststehen, mein Kompass sich im Kreis dreht und der prognostizierte Seegang auf der Corona-Skala nicht verlässlich ist. Bis dahin lecke ich meine Wunden und koche Chile Crisp, schaue die neusten Folgen von Terrace House, lese endlich 1Q84 und kann nicht anders, als hoffnungsvoll zu bleiben. Die Zukunft ist für uns alle ein unbekanntes Terrain, von dem es keine Landkarte gibt. Was uns hinter der nächsten Ecke erwartet, wissen wir erst, wenn wir abgebogen sind. Murakami weiß Bescheid. Die nächste Reise wird umso aufregender. Die nächste Wanderung noch atemberaubender. Und meine Zuversicht bleibt. Das Fundament hält.